Blicken wir auf die Jahrzehnte zurück, die der Entstehung des Wilhelm Meister vorausgehen und betrachten den Kontext, aus dem er hervorging, zeichnet sich deutlich ab, was zukünftig die Bezeichnung des Bildungsromans erhalten würde. Die Theorie des Romans und seine historische Genese als Genre der Moderne liefern dazu wichtige Hinweise; denn obwohl der Roman zunächst als minderwertige Gattung gegenüber der klassischen epischen Dichtung D galt, wandelte sich sein Status im Laufe des 18. Jahrhunderts, und genau das, was später als Bildungsroman bezeichnet wurde, spielte eine zentrale Rolle in dieser Entwicklung (vgl. SELBMANN 1988). Der Aufstieg des Romans im 18. Jahrhundert ist eng mit dem Aufstieg des Bürgertums verbunden: er wurde zum Mittel der Selbstdarstellung dieser Schicht. Ende des Jahrzehnts um 1740 wird der Roman besonders durch die Funktion bekannt, bürgerliche Tugenden zu propagieren. 2 Dies führt allerdings nicht zur Anerkennung des Romans als literarische Gattung seitens desKlassizismus der Frühaufklärung. 1751 akzeptiert ihn Johann Christoph Gottsched nur unter Vorbehalten und ohne allzu große Wertschätzung (vgl. JACOBS/KRAUSE 1989, S. 47), da der Roman dem Epos gegenüber vollkommen bedeutungslos warundwelches er für die höchste Gattung der Dichtung hielt. 3 2 Vor diesem Zeitpunkt hatte der Roman einen sehr niedrigen Status; im 17. Jh. wurde er von religiösen Oberhaupten sogar bekämpft wegen seiner erotischen Inhalte. Die Romantheorie des 17. Jh. blieb zunächst der dominanten Gattungshierarchie (insbesondere durch den Vergleich zur Epik), vor allem da die Deutungen von Romanen noch sporadisch waren und erst in den letzten Jahrzehnten des 18.Jh. häufiger wurden. Unter den Ausführungen dieser Zeit erwähnt Koopmann (1983) folgende Autoren: Daniel Georg Morhof, Unterricht von der teutschen Sprache und Poesie, 1682; Chr. Thomasius, Freymüthige Lustige und Ernsthaffte iedoch Vernunfft-und Gesetz-Mässeige Gadanken oder Monats-Gespräche (Halle, 1688/1689); Christian Weise, Kurtzer Bericht vom Politschen Näscher [?] (Leipzig, 1680); Pierre Daniel Huet, Traitté de l'origine des romans (1670), und Nicolas Boileau, L'art poétique (Paris, 1669-1674). 3 L'Art poetique von Boileau (1636-1711) war in Frankreich enorm einflussreich, und gewann in Deutschland noch mehr an Bedeutung durch Gottscheds Versuch einer critischen Dichtkunst vor die Deutschen (Leipzig 1730), wo er eine Rückkehr zu den Gattungen fordert gemäß der aristotelischen Definition der Epik, Lyrik und Dramatik. Im zitierten Werk behandelt Boileau diese drei Gattungen, jedoch nicht den Roman. Die Einschätzung Gottscheds beruht unter anderem auf der Tatsache, dass sich Konfiguration der Romans auf die prosaische Alltagswelt beschränkte. Doch die Wirklichkeit, wie sie sich darstellte, verlangte ihren Ausdruck mittels des Romans; in ihrem Ziel der Exemplifikation siegt die Prosa über den Vers, da ihre Sprache dem handfesten menschlichen Leben mit seinen realen und folglich auch authentischen Anforderungen gerechter wird. All das unterschied sich von der Epik, der hohen und erhabenen Kunst. Das hatte zur Folge, dass der Roman, mit seinem weitaus größeren Publikum, kaum als Mittel zur Unterweisung angesehen wurde; im Gegenteil hielt man ihn meist für eine minderwertige Form der Kommunikation (vgl. KOOPMANN 1983, S. 14-15), während die Epik weiterhin hohes Ansehen als aus dem Altertum überlieferte Literatur genoss (vgl. KOOPMANN 1983, S. 4). Mitte des 18. Jahrhunderts werden jedoch zahlreiche Romane verfasst, und ihre erzieherische/edukative Funktion wird allmählich richtungsweisend. Was die Vorläuferder Epik betrifft, und dies lässt sich ebenfalls beim Roman beobachten, lag ihre besondere Thematik eben darin, die? Entwicklungsgeschichte' eines Individuums darzustellen (vgl. JACOBS/KRAUSE 1989). 4 In der Welt der Epik hatten Darstellungen innerer Entwicklung, subjektive Beschreibungen der Welt oder die Erforschung der Psyche keinen Platz. Doch eben diese Subjektivität des Romans trug zu dessen sofortigen Erfolg bei. Betonung auf den Konflikt zwischen Individuum (inneren Anlagen) und Gesellschaft (äußere Einflüsse), so daß die ,harmonische' Bildung problematisch wurde. In diesem Punkt beruft sich Dilthey offensichtlich auf Hegel. Denn wie wir gesehen haben, konzipiert Hegel den Konflikt zwischen ,,Dichtung des Herzens" und ,,Prosa der Beziehungen" als maßgeblich für den Roman, und diese Spannungen werden als ,,Lehrjahre" bezeichnet, als ,,Bildung des Individuums in der existierenden Wirklichkeit", wobei das Individuum lernen muß, zu resignieren und sich in den vorgegebenen sozialen Beziehungen einzurichten -und damit folgt die Hegelsche Auffassung der Logik der Versöhnung, so problematisch diese auch sei. Forschungsarbeiten vom Anfang des 20. Jahrhunderts zeigten sich besorgt um die Bestimmung der Grenzen und der entsprechenden Klassifikation der Romane und versuchten, den Bildungsroman von seinen ,,Geschwistern", dem Erziehungsroman und dem Entwicklungsroman, zu unterscheiden. In Einflüsse unmittelbar durch den Einfluss eines oder mehrerer Mentoren unterwiesen wird. 10 Nach Meinung der Gelehrten (vgl. KÖHN, 1988, S. 326-327) liefert Lukács' Theorie des Romans, 1916 erschienen, einige der wenigen soliden Grundlagen, die zum Thema formuliert wurden, wenngleich unter der Bezeichnung des Erziehungsromans. Allerdings beabsichtigt ironischerweise der, den man für einen der besten Gelehrten zum Thema hielt, mitnichten eine Definition von Erziehungs-und Entwicklungsroman-Lukács setzt Vorwissen zu diesem Romantypus voraus. 11 Die Begriffe der Bildung und Ausbildung werden vom Autor nicht als Kategorien zur Klassifikation und Definition des Wilhelm Meister verwandt, sondern vielmehr als Aspekte der humanistischen Philosophie, die die Gestaltung des Romans prägen. 12 Trotz der von Köhn geäußerten Zweifel und Kritik glaubt er nicht, dass man auf die Konzepte des Bildungsromans (als historische Kategorie) und des Entwicklungsromans (als struktureller Typus) verzichten könne; nicht, weil sich diese irgendwie durchgesetzt hätten, sonder weil sie, wenn sie richtig verstanden werden, ein Gefüge von Interpretationsmerkmalen beinhalten. Köhn befasst sich mit den zwei Ebenen des Bildungsromans: der des Inhalts und Materials auf der einen und der formal-strukturellen auf der anderen Seite. Damit sucht der Autor, ihn von anderen Genres zu differenzieren, und bahnt den Weg für eine typologische Klassifizierung des Genres innerhalb der Geschichte Uwe Steiner (1997) welchem Maße die Schriftsteller bewusst versuchten, Romane zu produzieren, die dem Begriff entsprächen (ein von Martini hervorgehobener Aspekt). Inwieweit wurde das Konzept des Bildungsromans als Etikett übernommen, unter dessen Zeichen eine literarische Tradition geschaffen wurde? Und darüber hinaus, wenn die Schriftsteller ihre Werke in dieser Absicht schufen, was sollte der Literaturkritiker dann daran auszusetzen haben? 13 Dies ist ein altes und kompliziertes Problem zwischen Künstlern und Ästheten. Die Theoretiker, die den Begriff uneingeschränkt verteidigen, können sich auf die Schriftsteller berufen, um ihre Position zum Bildungsromans zu bestärken -oder sie verteidigen ihn auch, wenn ihnen die expliziten Absichten der Autoren unbekannt sind. Man muss jedoch einräumen, daß Bedeutung und Fortbestehen des Begriffs des Bildungsromans auch seitens der 'Schule' gerechtfertigt wird, die aus dem Goethe-Roman selbst hervorging, von deutschen Schriftstellern, die sich direkt oder indirekt, explizit oder implizit in diese Tradition einreihen. Ebenso stark ist der Einfluß, den der Roman in der internationalen Rezeption seit dem 19. Jahrhundert hatte, der große Wirkung auch auf Stendhals Rot und Schwarz hatte, auf Balzacs Verlorene Illusionen und Die Erziehung der Gefühle von Flaubert, die alle laut Hegel gelesen werden können als Geschichte der ,,Erziehung des Individuums an der vorhandenen Wirklichkeit". 14 Doch auch bei Berücksichtigung der klarsten Positionen von Schriftstellern und Literaturkritikern bleibt die theoretische Frage offen: was ist die einhellige Definition der Gattung oder des Romantypus, die als Bildungsroman bezeichnet werden? Konkreter ausgedrückt: will man eine Analyse mit dem Bildungsroman als Übergriff durchführen, stößt man dabei auf Probleme, die schon symptomatisch geworden sind. Zum Beispiel mag sich der Begriff auf einen Teilaspekt eines Romans anwenden lassen (wie auf den nicht minder diskutablen ,Bildungsprozess'), aber wiederum völlig unpassend sein im Hinblick auf das, Schicksal' des Helden. Handelt ( A ) Global Journal of Human Social Science -Volume XIX Issue IX Version I 26 Year 2019Trotz dieser maßgeblichen Unterschiede gegenüber der Epik wurde der Roman zunächst nicht als Widerspruch zur epischen Gattung verstanden, was deutlich wird in Christian Friedrich von Blanckenburgs Versuch über den Roman (1774). Darüber hinaus wird er durch seine Nähe zur Biographie wie auch zur Autobiographie besonders interessant, was vorübergehend vom Spannungsverhältnis zwischen Epos und Roman ablenkt. Anton Reiser. Ein psychologischer Roman von Karl Philipp Moritz(1785/1786/1790) ist die literarische Schöpfung, durch die es dann außerordentlich deutlich wird, dass der Roman die Geschichte eines Individuums ist, oder vielmehr die Geschichte von dessen Innenleben, worauf der Untertitel hinweist. Moritz sagt, der Roman sei"eine so wahre und getreue Darstellung eines Menschenlebens [?], als es vielleicht nur irgend eine geben kann" (KOOPMANN 1983, S. 15). Moritz' Werk erzählt die Geschichte einer gescheiterten individuellen Entwicklung und versucht die Gründe für das Unglück Es handelt sich um eine Darstellung von Individualität, bei der die psychologische Vertiefung eine wichtige Rolle spielt; dies unterscheidet sich grundlegend von einer Darstellung, in der die Hauptfigur lediglich als Verbindungselement zwischen unabhängigen Abenteuerepisoden dient, mit der Hauptfunktion, die Hegel nutzte seinerseits Wilhelm Meisters Lehrjahre, um den modernen Roman zu definieren. Für den Philosophen ist der Roman nur ein ,,Randphänomen des Epischen", und in diesem Zustand ist er die ,,moderne bürgerliche Epopöe"(HEGEL, 1986: 220). 5 Besonders sind Jünglinge diese neuen Ritter [?]. Diese Kämpfe nun aber sind in der modernen Welt nichts Weiteres als die Lehrjahre, die Erziehung des Individuums an der vorhandenen Wirklichkeit, und erhalten dadurch ihren wahren Sinn. Denn das Ende solcher Lehrjahre besteht darin, daß sich das Subjekt die Hörner abläuft, mit seinem Wünschen und Meinen sich in die bestehenden Verhältnisse und die Vernünftigkeit derselben hineinbildet, in die Verkettung der Welt eintritt und in ihr sich einen angemessenen Standpunkt erwirbt. [?] zuletzt bekommt Der Philosoph sieht in der Auflösung des höfischen Romans und der Schäferdichtung den Beginn des Romans im modernen Sinne. er meistens doch sein Mädchen und irgendeine Stellung, heiratet und wird ein Philister so gut wie die anderen auch [?] Wir sehen hier den gleichen Charakter der Abenteuerlichkeit, nur daß dieselbe ihre rechte Bedeutung findet und das Phantastische daran die nötige Korrektion erfahren muß. (Ästhetik, S. 567) Hegel setzt sich zwar mit den Theorien zu Epik und Roman des gerade vollendeten 18. Jahrhunderts auseinander, spricht aber nicht vom Bildungsroman, sondern von, Lehrjahren', wie sie im modernen Roman dargestellt werden; und dennoch entsteht hier eine der meistgebrauchten Definitionen, um den Bildungsroman zu beschreiben -eine, die sich auf das Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft konzentriert als Tonikum seiner Bildung und Ausbildung. Der Aspekt der Innerlichkeit mag von Theoretikern des Bildungsromans besonders betont worden sein aufgrund ihrer besonderen Ausdeutung durch Blanckenburg. Und indem Hegel und Blanckenburg nicht den Begriff des Bildungsromans verwenden, heben sie die Romane Goethes und Wielands auf eine universelle Ebene paradigmatischer moderner Romane -eine Universalität, die ihnen als Bildungsromane verwehrt bleibt, insoweit sie bloß als Untergattung unter den Romanen der Moderne gelten. Es ist also nicht zufällig, dass die Definitionen des modernen Romans mit dem des Bildungsromans verschwimmen, da viele Theoretiker des Bildungsromans, gestützt auf Morgenstern und Dilthey als Schöpfer des Begriffs, auf Blanckenburg und Hegel zurückgreifen, um eine Definition der Gattung zu finden. Doch müssen auch andere Einflüsse erwähnt werden, die starke Auswirkungen auf Positionen hatten, die in der Debatte zum Bildungsroman im 20. Jahrhundert vertreten wurden. Ist die Verwendung des Begriffes des Bildungsromans durch ererbte Definitionen des modernen Romans ohnehin schon schwierig, wird er noch komplizierter durch die Komplexität des Begriffs der Bildung selbst, den diese für Goethe und seine Zeitgenossen besaß. Goethe verwendet den Begriff der Bildung in so unterschiedlichen Kontexten wie dem ontologischen, dem naturwissenschaftlichen oder pädagogischen; so handelt es sich um einen komplexen Begriff, der sich auf Mensch und Pflanze, Heimat und Herz, Geist und Erziehung beziehen kann. Diese Thematik ist zweifellos präsent in Goethes Roman, und führte schon zu Zeiten seiner Erscheinung zu Polemiken. Dies wird deutlich anhand von Briefen über Wilhelm Meister, die von Widersprüchen führen könnten; er betonte lediglich die Körner schreibt an Schiller: klammerte Dilthey alle Faktoren aus, die zu unlösbaren von Wilhelm von Humboldt vom 24. November 1796. Individuen und ihres persönlichen Werdegangs Christian Gottfried Körner vom 5. November 1796 oder hat. Durch die Tilgung der Unterschiede zwischen den Goethes Zeitgenossen verfasst wurden, etwa einem von Ausbildung ist ein vollendetes Gleichgewicht, Harmonie mit Freiheit? Diese Auffassung, die wörtlich von Morgenstern mitgeteilt wurde, teilt 7 Vielleicht wird diese zentrale Diskussion der Romantheorie stärker von der Besonderheit des Meisters geprägt als seine angebliche Begründung der Gattung des Bildungsromans -oder vielleicht ist das, was man als Bildungsroman bezeichnen will, nicht mehr und nicht weniger als der moderne Roman im engeren Sinn. konzeptionelle Infragestellung des Bildungsromans langsam aber kontinuierlich weitergeführt. Parallel dazu wurde der Begriff so eifrig reproduziert, dass er praktisch in der Literaturtheorie naturalisiert wurde, und erst in den sechziger Jahren stellte man sich die Aufgabe, seinen Ursprung zurückzuverfolgen und zu identifizieren. So war es Fritz Martini, der in 1961 mitteilte -zur großen Überraschung der akademischen Gemeinde -dass der Begriff des Bildungsromans im Sinne einer literarischen Gattung nicht von Dilthey 1870 geprägt wurde, sondern 1820 von einem unbekannten Professor namens Karl Morgenstern, der versuchte, dessen grundlegende Eigenschaften zu bestimmen und sich hierzu wichtiger Theorien Blanckenburgs und Hegels bediente. Dies geschah zwischen 1817 und 1824, zu einer Zeit, in der das literarische Interesse eher dem romantischen Roman Lucinde von F. Schlegel und dem historischen Roman von Walter Scott galt, die für die Romanproduktion der Zeit eher repräsentativ waren (vgl. Hinblick auf die ,Persönlichkeit', die sich gerade gebildet SELBMANN 1988, S.1). Dilthey anhand der biologisch-organischen von Stufen und Reife spricht (SELBMANN 1988, S. 22). Die Geschichte des Bildungsromans wird in diesem allgemeinen Abriss zusammengefasst (DILTHEY 1988, S. 121): Auch wenn Dilthey nicht beabsichtigte, den Bildungsroman zu definieren oder systematisch zu behandeln, war er insofern überzeugend, dass die Besonderheiten, die die Romane voneinander unterschieden, verallgemeinert und unterdrückt wurden. Jedoch anstatt die Romane wie Hegel unter der Ägide des Modernen zu verallgemeinern, tat es Dilthey, wie auch Morgenstern, unter der Ägide des Bildungsromans. In der optimistischen Deutung des Wilhelm Meister wäre der Individualismus positiv im [in diesen Romanen]( -Global Journal of Human Social Science A ) Evolutionstheorie eine Analogie zur Bildung, wobei er Year 2019 diese ausschließlich deutsche? Laut Dilthey betonen beinahe alle Arbeiten außerhalb Deutschlands den eigentümlichen Charakter Bildungsromans innerhalb der Geschichte des europäischen Romans, und stellen ihn als spezifisch deutsche Form des bürgerlichen Romans dar. 9 Für einige Theoretiker des Bildungsromans ist dies aber eine weitere Behauptung, die der genaueren Untersuchung bedarf, da es nicht plausibel erscheint, dass keine Beziehung bestünde zwischen dem deutschen Bildungsroman und anderen Romanen aus Europa oder anderen Epochen; dennoch halten sie die Einschätzung des Bildungsromans als deutsches Genre nicht für völlig falsch -auch unter Berücksichtigung der politisch-nationalistischen Färbung, die diese Debatte angenommen haben mag (vgl. KRÜGER, in: KÖHN 1988, S. 292) -sie macht 1. gebührt der bahnbrechenden Leistung Anerkennung, lediglich deren historischen Charakter zum mit der der Autor ein Konzept in Frage stellte, welches Hauptkriterium. schon damals, obwohl nie streng definiert, zu einem Unter der Autorität Diltheys beginnt sich 1904 paradigmatischen Instrument literarischer Klassifikation geworden war. In den folgenden Jahrzehnten wurde die und 1906 dasDie Einheit des Ganzen denke ich mir als die Darstellung einer schönen menschlichen Natur, die sich durch die abstrakte, Persönlichkeit' des Menschen, losgelöst vonZusammenwirkung ihrer inneren Anlagen und äußerenVerhältnisse allmählich ausbildet. Das Ziel dieser© 2019 Global Journals des Romans. Historisch sei er ein Produkt Goethes undseiner Zeitgenossen; typologisch könne er sowohl,,konkrete historische Gattung oder Dichtungsart" desEntwicklungsromans sein als auch ein ,,quasiüberhistorischer Aufbautypus". Köhn sieht genau diese,,definitorischeOffenheitdesKomplexesBildungsroman", wie Selbmann schreibt, (1988, S. 30),als,,VoraussetzungseinerhermeneutischenBrauchbarkeit", wodurch er zu einem für dieLiteraturwissenschaft zum unverzichtbaren Begriff wird.Aber er betont dabei, daß die ,,Strukturkategorien" zurAnalyse des Bildungsromans noch nicht ausreichendenentwickelt seien. In diesem Zusammenhang sollte die Position Martinis erwähnt werden (vgl. Selbmann S. 263), da dieser in seiner Untersuchung zur Geschichte vonYear 2019Konzept und Theorie des Bildungsromans zeigt, daß diePrägung des Begriffs Bildungsroman eng mit seiner29zeitgenössischen Geschichte verknüpft ist (und damit den Begriff vom Wilhelm Meister abkoppelt). Er behauptet, der Bildungsroman sei keine ,,kategoriale ästhetische Form, sondern (...) eine historische Form", deren Prämissen eher auf Stoff, Thematik, Zielsetzung und Funktion beruhen als auf formalen Strukturgesetzen. Allein mit dem Bewußtsein der Historizität von Bildungsroman und Bildungsbegriff können Untersuchungen zur Struktur sinnvoll sein -und vielleicht, weil er diese Bedingungen seinerzeit nicht eingelöst sah, wurde Martini skeptisch gegenüber dem Begriff, wie wir im folgenden sehen werden. Jacobs und Krause (1989) unterscheiden ihrerseits zwischen dem Bildungsroman als historischesVolume XIX Issue IX Version I ( A )Genre der Goethezeit und dem ahistorischen Begriff des Entwicklungsromans. Wie die Abhandlung Köhns stellt das Buch dieser beiden Autoren den Versuch dar, die vorhergehenden Forschungsergebnisse zum Bildungsroman zusammenzutragen. Obwohl Jacobs und Krause eine nützliche bibliographische Übersicht liefern, haben sie nicht die Absicht, sie detailliert darzustellen oder zu problematisieren; sie gehen davon aus, dass Wilhelm Meisters Lehrjahre eine von niemandem sonst erreichte Norm des Bildungsromans darstellt; dennoch dienen die Lehrjahre zur Einordnung anderer Romane, weswegen der Roman weiterhin von der vergleichenden Literaturwissenschaft sehr geschätzt wird. Doch welchen Sinn hat die Bezeichnung eines Genres, fragen wir kritisch mit Selbmann (1988, S. 34), wenn es streng genommen nur zur Bestimmung einesGlobal Journal of Human Social Science -einzigen Romanes nützt?2.Zur Kritik des Konzeptes des Bildungsromansinsbesondere in Bezug auf Wilhelm Meisters Lehrjahre:eine noch offene Aufgabe© 2019 Global Journals es sich in so einem Fall dann um einen Bildungsroman? Es wurde verschiedentlich versucht, den Begriff zu präzisieren, z.B. durch Untersuchungen zu Protagonisten, die der Idee der Bildung entsprechen (sogenannte, Bildungshelden') und zu allem, was auf deren Existenz hinweist, und indem man die Konzepte zu Bildungsgeschichte, Bildungsgang/Bildungsweg und Bildungsziel ergründete in ihrer vereinzelten oder gemeinsamen Präsenz in verschiedenen Werken. Dennoch haben all diese Bemühungen nicht zu einer ersetzen, was für die Autorin eine umfassendere Analyse gewährleistet (ebenda S. 366). 16 Karl Otto Conrady kann sich dann 1994 schon ohne viel Aufsehen von der Deutungstradition lösen, die bis dahin vorherrschend war, auch wenn sie sich seit mindestens zwei Jahrzehnten im Verfall befand; so Kritik Volume XIX Issue IX Version I ( A ) Global Journal of Human Social Science -Year 2019 32 Year 2019 kommentiert er kurz das Konzept, indem er die Schlussworte Friedrichs über Wilhelm Meister aufgreift A ) ( und fragt: 17 zu tun, was viele Verteidiger des Konzeptes taten, Jedoch hielte Conrady es für verfehlt, dasselbe Ist das der Schluss eines Bildungsromans? Ist Wilhelm Schüler Meister geworden und endlich dort angekommen, wohin ein Bildungsroman, wenn der (um 1810 aufgekommene) Begriff einen Sinn haben soll, einen Menschen führen müsste, dessen Lebensphasen erzählt werden: zur Erkenntnis der Möglichkeiten und Aufgaben seiner Existenz und entsprechenden Verhaltensweisen? (CONRADY 1994, S. 637). So schliesst er, dass es keinen ausschließlichen Begriff von Bildunggibt: im Gegenteil gibt es mehrere Widersprüche. Weniger skeptisch und radikal als Schlechta griff Klaus-Dieter Sorg (1983) Conradys Einschätzung voraus: ,,Für Wilhelms Bildungsanliegen gibt es somit keine befriedigende Lösung in Gestalt einer bestimmten Lebensform, sondern seine Bildung 122-123). kann sich nur als Problem darstellen"(in: SEITZ 1996, S. -Global Journal of Human Social Science Literaturverzeichnisbefriedigenden Lösung geführt, die alle Aspekte auf einen einzigen Begriff vereinte. Die Bewegung der Negation des Bildungsromans entsteht zunächst mit der Anfechtung desselben, und bleibt gezwungenermaßen an die Fragestellungen gebunden, die aus jahrelanger Deutungstradition stammen. Vorbehalten nutzt, lehnt die Möglichkeit einer Erneuerung des Bildungsromans ab (vgl. Köhn S. 363). 15 Das ,,Bewusstsein der Freiheit", die ,,Kraft zur Selbstbestimmung" des Individuums in der Interaktion zwischen ,,Ich und Welt", die für ihn essentiellen Voraussetzungen von Bildung und Bildungsroman, werden in den Romanen des 20. Jahrhunderts zerstört (und die oft beschrieben werden als: Flucht in die Innerlichkeit und Sehnsucht nach Auflösung trennenden Bewußtseins; Zerstörung der transzendenten Einheit des Ichs, etc.). Die Entfremdung des Menschen in der übermächtig gewordenen gesellschaftlichen, politischen und technischen Wirklichkeit macht eine authentische Bildung unmöglich (laut Martini bewirkte Kafka mit Das Schloss, Der Prozess und Amerika die radikalste Vernichtung dieser Art des Romans). So findet auch Werner Welzig, (vgl. KÖHN 1988, S. 366) daß Konzepte wie der Bildungs-oder Charakterroman nicht ausreichen für ein modernes Verständnis der Thematik -und beruft sich an dieser Stelle auf Melitta Gerhard (1926), obwohl diese in ihrer Arbeit den Begriff des Entwicklungsromans wählt, um den Bildungsroman in seiner Funktion zu Modell gibt. Der Roman entfaltet ein Panorama menschlicher Schicksale sehr unterschiedlichen Zuschnitts; zudem gibt die Gestaltung der Figuren ein klares 'Nein' auf die Frage, ob Bildung möglich sei als gelungenes Gleichgewicht des Ichs in der Welt. Für Conrady bietet Wilhelm Meister ,,kein Muster für eine Bildung, in dem mit deutlicher und übertragbarer Bestimmtheit vorgezeichnet ist, wie sie zu geschehen habe und sich glücklich vollenden könne" (in SEITZ 1996, S. 123). Auch Klaus Gehrt (1996), Hans-Egon Hass (1963) und Gerwin Marahrens (1985) wenden sich gegen das Konzept des Bildungsromans in der Analyse des Wilhelm Meister. So gibt auch Erwin Seitz zu bedenken: eine Utopie darstellt. Insel wird, die schon in der Konfiguration des Romans bürgerlichen Gesellschaft, daß die Turmgesellschaft zur Schließlich findet Steiner(1997), daß eine produktive Abweichung von den Untersuchungen zum Bildungsroman der entscheidende Impuls für die Studie Lukács' von 1936 war; sie wird selten von Kritikern zitiert, gerade weil sie sich aus der Sphäre des Bildungsromans löst (ohne ihn jedoch zu polemisieren). Die Interpretation Lukács' stellt den Roman in den Kontext der Geschichte der französischen Revolution, deren soziale und menschliche Themen mit den Bildungsidealen der Weimarer Klassik übereinstimmen. Zugleich bewirkt das Spannungsverhältnis zwischen humanistischen Idealen und der Realität der16 18 " In Deutschland erscheinen solche Romane im letzten Viertel des 18. Jh. mit Werken wie z.B. Wilhelm von Blumenthal Johann Gottlieb Schummels (1780/81) und Hermann und Ulrike von Johann Carl Wezel (1780) (JACOBS/KRAUSE 1989, S. 48). Hier benutzen wir das Wort 'Entwicklung' ohne die konzeptuelle Konnotation der Gattung des Entwicklungsromans, wie sie zuvor von der Literaturkritik bestimmt wurde (ohne aber zu einem Konsens zu finden). Wenngleich die Diskussion über den Roman als Epik der Moderne zu Beginn des 18. Jahrhunderts aufkam (insbesondere im Hinblick auf den Roman Telemachos des Fénelon, 1699-1700), geht die Bezeichnung des Romans als bürgerliche Epopee auf Johann Carl Wezel zurück -diese Gattung,"am meisten verachtet und am meisten gelesen", ist laut Wezel im Vorwort zu seinem Roman Hermann und Ulrike (1780) nichts weiter als die epische Form der bürgerlichen Zeit, die sich in der bürgerlichen Welt abspielt und bürgerliche Themen behandelt (KOOPMANN S.15). Lukács nahm den berühmten Begriff via Hegel wieder auf, da er zur Grundlage formaler und historischer Untersuchungen des Romans geworden war. "Urteile über Wilhelm Meisters Lehrjahre", in GOETHE, 2002, S. 653 (Körner) und 660 (Humboldt).7 Die Kollision zwischen Epik und Romantik war laut Koopmann unvermeidlich, unaufhaltbar und bewusst vorprogrammiert.. Eine erste Bestätigung dafür findet sich bei Wezel (op.cit.). Kritik des Konzepts des Bildungsromans. Wilhelm Meisters Lehrjahre als Markstein einer Kritisch-Literarischen Polemik © 2019 Global Journals Dies ist der Fall etwa bei David H. Miles und Martin Swales, vgl. SELBMANN 1988, S. 36. Kritik des Konzepts des Bildungsromans. Wilhelm Meisters Lehrjahre als Markstein einer Kritisch-Literarischen Polemik In: Deutsche Literatur im bürgerlichen Realismus 1848-1898, KÖHN 1988, S. 352. Theoretikern vernachlässigt zugunsten anderer Aspekte des Goetheschen Romans (während andere nicht aufgaben und es weiterhin versuchten). 19 Hans-Jürgen Schings, einer der renommiertesten Theoretiker des Meisters, hat Bedenken, Werke mit Etiketten wie ,Bildungs-' oder ,Sozialroman' zu versehen, auch wenn er die Bezeichnung ,Bildungsroman' ohne besondere kritische oder definitorische Abgrenzung übernimmt, wohl in der Absicht, sich in Ruhe der eigenen Arbeit zu widmen, die so gar nichts mit dieser kritischen Tradition gemein hat; er spricht von der belebenden Wirkung jüngerer Studien und analytischen Perspektiven Goetheschen Roman und zitiert symbolische, psychoanalytische, epistemologische und mythologische Ansätze. 20 Wenn sich die Wissenschaft aufgrund von Methoden und Klassifikationen konstituiert, dann sollte dies ebenso für die Literaturwissenschaft gelten -wir denken hier insbesondere an die deutsche Literaturwissenschaft, auf deren fruchtbaren Boden der Bildungsroman florierte. Begriffe wie Gesellschaftsroman, Künstlerroman, Individualroman und viele andere Untergattungen des Romans helfen der Literaturwissenschaft, mit ihren Gegenständen zu arbeiten und den Zugang zu ihnen zu erleichtern; in manchen Fällen erlauben sie auch ein besseres Verständnis derselben. Ebendiese wissenschaftliche Intention liegt den meisten Versuchen zugrunde, den Begriff des Bildungsromans zu begründen. Doch eben das, was sich als nützliches Instrument der Klassifikation Tatsächlich entstehen vor allem ab 1970 fruchtbare Studien zum Goethe-Roman, die zu verschiedenen Thematiken Fortschritte erzielen und neue Verstehensansätze erschliessen wollen, jedoch ohne sich auf die Diskussion zum Bildungsroman einzulassen. In der jüngsten Forschung sind die Arbeiten von Felicitas Igel (2007) und Dirk Kemper (2004) * Ein Schüler, der kein Meister wurde. Wilhelm Meisters Lehrjahre KarlOtto Conrady Goethe. Leben und Werk München, Zurich 1994 * Der Bildungsroman (1906) WilhelmDilthey Zur Geschichte des deutschen Bildungsromans RolfSelbmann Darmstadt1988 * MelitaGerhard Der deutsche Entwicklungsroman bis zu Goethes "Wilhelm Meister Halle/Saale1926 * Das Wechselspiel des Lebens'. Ein Versuch, Wilhelm Meisters Lehrjahre (wieder) einmal anders zu lesen KlausGehrt Goethe-Jahrbuch 11 1996 * JWolfgang Von Goethe Wilhelm Meisters Lehrjahre 2002 * Goethe -Wilhelm Meisters Lehrjahre Hans-EgonHass Benno von Wiese. Der deutsche Roman 1963 Düsseldorf * GWFriedrich Hegel Vorlesungen über die Ästhetik II. Frankfurt am Main 1986 * Wilhelm Meisters Lehrjahre im Kontext des hohen Romans FelicitasIgel 2007 Würzburg * JJacobs MKrause Der deutsche Bildungsroman. Gattungsgeschichte vom 18. bis zum 20. Jahrhundert München 1989 * Goethe und die Individualitätsproblematik der Moderne DirkKemper Ineffabile 2004 München * Zur Geschichte des deutschen Bildungsromans LotharKöhn Rolf Selbmann (Hrsg) Darmstadt 1969. 1988 * Vom Epos und Roman HelmutKoopmann Handbuch des Deutschen Romans Düsseldorf 1983 * GeorgLukács Marx Und Goethe Frank Benseler: Revolutionäres Denken -Georg Lukács. Eine Einführung in Leben und Werk Darmstadt/Neuwied 1970. 1984 * WilhelmMeisters______________ Lehrjahre Georg Lukács. Schriften zur Literatursoziologie Darmstadt/Neuwied 1961 * Über die Schicksalskonzeptionen in Goethes 'Wilhelm Meister' -Romanen GerwinMarahren Karl-Heinz Hahn. Goethe Jahrbuch 1985 Weimar * Zur Geschichte des Wortes und der Theorie (1961) FritzMartini Rolf Selbmann (Hrsg). Zur Geschichte des deutschen Bildungsromans Darmstadt 1988 Der Bildungsroman * Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte (Dvj) KurtMay KUHN, Hugo (Hrsg 1957 Stuttgart Wilhelm Meisters Lehrjahre, ein Bildungsroman? * Ueber das Wesen des Bildungsromans (1820) KarlMorgenstern Rolf Selbmann (Hrsg) * Zur Geschichte des deutschen Bildungsromans Darmstadt 1988 * KarlSchlechta GoethesWilhelmMeister 1985 Frankfurt am Main * Wilhelm Meisters schöne Amazone Hans-JürgenSchings Jahrbuch der Deutschen Schiller-Gesellschaft 29 1985 * ErwinSeitz Die Vernunft des Menschen und die Verführung durch das Leben. Eine Studie zu den Lehrjahren Weimar 1996 113 Goethe Jahrbuch * Zur Geschichte des deutschen Bildungsromans RolfSelbmann Einleitung Hrsg Darmstadt 1988 * LudwigErnstStahl Die Entstehung des deutschen Bildungsromans im achtzehnten Jahrhundert Rolf(Selbmann Hrsg Darmstadt 1988 Zur Geschichte des deutschen Bildungsromans * Wilhelm Meisters Lehrjahre UweSteiner Goethe-Handbuch. Band 3. Prosaschriften. Witte, Bernd; Schmidt, Peter (Hrsg) Weimar 1997